Wort der deutschen Bischöfe
zur Bundestagswahl 1980
25. August 1980
Herausgeber: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz
Kaiserstraße 163, 5300 Bonn 1
Brüder und Schwestern im Herrn!
Am 5. Oktober wird der 9. Deutsche Bundestag gewählt. Jede
Wahl ist nicht nur ein politischer Vorgang, sondern zugleich eine
sittliche Entscheidung darüber, welche Werte und Ziele die Politik
in den kommenden Jahren bestimmen und tragen. Dazu
wollen wir Bischöfe heute ein Wort sagen.
Der Christ wird bei seiner Wahlentscheidung bedenken, was die
Gebote Gottes in der Politik fordern. Sie betreffen ja nicht nur das
Leben des einzelnen Menschen, sie sind zugleich Richtschnur für
das öffentliche Leben. Die Gebote Gottes sind das Fundament
jeder wahren Humanität. Sie begründen die unbedingte Achtung
vor dem Menschen als Person und als Träger unantastbarer
Rechte und Pflichten. Die Gebote Gottes fordern Gerechtigkeit
und Liebe im gesellschaftlichen und politischen Zusammenleben
und verpflichten zum Dienst am Frieden.
Vier Gesichtspunkte seien eigens hervorgehoben:
Erstens: Eine Politik, die nicht einer Ideologie, einem Prestigeoder
Machtdenken dient, sondern Gottes Gebot folgen will, muß
die Würde jedes Menschen und seine Rechte achten und fördern.
Unser Grundgesetz bekennt sich zu diesem Maßstab. Wir dürfen
dankbar anerkennen, daß in den zurückliegenden dreißig Jahren
vieles geschaffen wurde, was soziale Notstände beseitigte, Ungerechtigkeiten
abbaute und die Enffaltungsmöglichkeiten der Bürger
erweiterte. Um so schmerzlicher ist es, feststellen zu müssen,
daß Menschen in unserer Gesellschaft vielen ungeborenen Kindem
das Recht auf Leben verweigern und daß unsere Rechtsordnung
dieses Grundrecht nicht mehr umfassend schützt. Wir dürfen
uns über die Folgen einer solchen Entwicklung nicht hinwegtäuschen:
Die Aushöhlung des Grundrechts auf Leben untergräbt
auch die Grundwerte der Gerechtigkeit und der Solidarität. Sie
zerstört die Liebe und gefährdet den Frieden.
Zweitens: Ein Volk verliert die Hoffnung auf Zukunft, wenn die
Werte von Ehe und Familie nicht mehr erkannt, geschützt und
auch nicht mehr vorgelebt werden. Gesetze, die die Ehescheidung
begünstigen und den auf Lebenszeit geschlossenen Bund
aushöhlen, zerstören die Ehe. Gesetze, die von der falschen
Annahme ausgehen, die Mehrzahl unserer Familien sei zerrüttet
und deshalb müsse immer mehr der Staat die Familie ersetzen
oder in sie hineinregieren, solche Gesetze tragen nicht dazu bei,
personale Freiheit und Verantwortung zu stärken. Sie schwächen
die Familie. Familienpolitik darf kein Lippenbekenntnis bleiben.
So sehr die Erhöhung des Kindergeldes zu begrüßen ist, so wenig
kann sie eine Politik ersetzen, die der Familie den ihr gebührenden
hohen Rang zuerkennt. Darum aber geht es, daß die wichtige
Rolle der Familie für die Gesellschaft geistig, rechtlich und materiell
gestärkt wird.
Drittens: Notwendig ist auch eine Politik, die das Gemeinwohl
gegen ausufernde Privat- und Gruppeninteressen durchsetzt und
zugleich die Grenzen der Zuständigkeit des Staates achtet. Seit
Jahren stehen wir in der Bundesrepublik Deutschland in der
Gefahr, über unsere Verhältnisse zu leben und damit die Lebenschancen
unserer Kinder zu belasten. Die Ausweitung der Staatstätigkeit,
die damit verbundene Biirokratisierung und die gefährlich
hohe Staatsverschuldung müssen jetzt komgiert werden. Es
ist ein Trugschluß zu meinen, der Staat könne alles, und insbesondere,
er könne alles besser machen. Der Staat ist dem Gemeinwohl,
also der Sicherung und der Förderung des friedlichen
Zusammenlebens der Bürger, verpflichtet. Dieser Verpflichtung
wird er am besten gerecht, wenn er die Initiative, die Anstrengung
und die persönliche Verantwortung der einzelnen und der
Gruppen herausfordert und stärkt.
Viertens: Die vornehmste Aufgabe der Politik ist die Sicherung
des Friedens. Die schweren Konflikte und kriegerischen Auseinandersetzungen,
die in nicht wenigen Teilen der Welt ausgebrochen
sind und so vielen Menschen schreckliches Leid zufügen,
gefährden den Frieden. Sie gehen auch uns an. Wahrer Friede ist
Friede in Freiheit. Wie der Friede in Freiheit erhalten, gesichert,
beziehungsweise wiedergewonnen werden kann, darüber gehen
die Auffassungen auseinander. Darum muß in der Politik gerungen
werden. Den Weg zum dauerhaften Frieden geht nur, wer -
innerhalb des Staates und der Völkergemeinschaft - sich an der
Menschenwürde, an der Freiheit und an der Gerechtigkeit für
alle ausrichtet.
Die demokratischen Parteien in unserem Land wissen sich seit
der Gründung der Bundesrepublik Deutschland dem Frieden als
dem obersten Ziel der Politik verpflichtet. Dieses gemeinsame
Fundament unserer Demokratie darf nicht verspielt werden.
Keine demokratische Partei sollte der anderen den Willen zum
Frieden oder die Fähigkeit, ihm in Politik und Diplomatie zu
dienen, absprechen.
Alle Bürger stehen bei der Wahl vor einer Gewissensentscheidung.
Nichtwählen ist in der Regel eher ein Zeichen der Flucht
vor der Verantwortung, entweder, weil man sich nicht festlegen
möchte, oder, weil man eine ideale Alternative ohne Fehl und
Tadel sucht, die es auf dieser Welt nicht gibt. Der Frage, wie wir
unserer Verantwortung gerecht werden für eine Lebensordnung,
die nach Gottes Willen dem Menschen dient, müssen wir uns
stellen.
Würzburg-Himmelspforten, 25. August 1980
Erklärung des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz,
Kardinal Joseph Höffner, zur Diskussion um das Wort der deutschen
Bischöfe zur Bundestagswahl 1980
Das Wort der deutschen Bischöfe zur Bundestagswahl 1980 ist
nach seiner vorzeitigen Veröffentlichung lebhaft diskutiert,
begrüßt und kritisiert worden. Ich komme gern verschiedenen
Anfragen nach, dazu meine Auffassung zu sagen.
Wir deutschen Bischöfe bekennen uns mit diesem Hirtenwort zur
katholischen Soziallehre. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil
„gehören Lehre und Wirksamkeit der Kirche im sozialen
Bereich zu den Lebensäußerungen der Kirche". Nach Johannes
XXIII. ist die katholische Soziallehre „ein integrierender
Bestandteil der christlichen Lehre vom Menschen" (Enzyklika
,,Mater et Magistra").
2.
Die katholische Soziallehre läßt sich nicht, wie in den letzten
Tagen irrtümlich behauptet worden ist, auf das einschränken,
was im Alten und im Neuen Testament steht. Sie muß sich heute
Aufgaben stellen, die Folgen moderner Entwicklungen sind.
Die deutschen Bischöfe haben in den vergangenen Jahren in
zahlreichen Hirtenbriefen, Verlautbarungen und Stellungnahmen
aus dem Geist der katholischen Soziallehre immer wieder zu
solchen drängenden Fragen unserer Gegenwart und Zukunft ihre
Meinung gesagt.
Der jetzt von einigen Seiten scharf kritisierte Hirtenbrief zur
Bundestagswahl beschränkt sich bewußt auf eine Auswahl jener
Grundsätze, die uns im Rückblick auf die vergangene und im
Ausblick auf die künftige Legislaturperiode des Deutschen Bundestages
als besonders aktuell und für die Zukunft unseres Volkes
als besonders wichtig erscheinen. Keine Seite kann uns
vorschreiben, welche Auswahl wir dabei treffen.
Mit besonderer Schärfe wurde jener Satz in unserem Schreiben
angegriffen, in dem das Wort „Staatsverschuldung" steht. In der
Erregung darüber wurde der Zusammenhang nicht beachtet, in
dem dieses Wort enthalten ist. Ich zitiere diesen Zusammenhang:
,,Seit Jahren stehen wir in der Bundesrepublik Deutschland in der
Gefahr, über unsere Verhältnisse zu leben und damit die Lebenschancen
unserer Kinder zu belasten. Die Ausweitung der Staatstätigkeit,
die damit verbundene Bürokratisierung und die gefährlich
hohe Staatsverschuldung müssen jetzt korrigiert werden. Es
ist ein Trugschluß zu meinen, der Staat könne alles, und insbesondere,
er könne alles besser machen.''
Diese Aussage zieht lediglich die Folgerung aus dem Grundsatz
der Subsidiarität, der ein Eckpfeiler der katholischen Soziallehre
und die Grundlage einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung ist.
Es „verstößt gegen die Gerechtigkeit, das was die kleinen
Gemeinwesen aus eigener Kraft leisten können, der Gesamtgesellschaft
zu übertragen" (Enzyklika ,,Quadragesima anno").
Papst Johannes XXIII. hat in ,,Mater et Magistra" dazu gesagt,
„daß der Staat mehr und mehr in Bereiche eindringt, die zum
persönlichsten des Menschen gehören und darum von höchster
Bedeutung, aber auch ernsten Gefährdungen ausgesetzt sind".
Eine ,,gefährlich hohe Staatsverschuldung" aber ist ein Anzeichen
dafür, daß die Subsidiarität nicht mehr als Prinzip geachtet
wird. Zudem belastet sie gefährlich die Zukunftschancen der
kommenden Generation. Wenn wir hier unsere Bedenken anmelden,
dann geht es uns um die Grundlagen unserer Gesellschaft.
5.
In einigen Stellungnahmen wird kritisiert, daß das Bischofswort
nicht auch andere aktuelle Themen behandelt. Offenbar haben
manche Kritiker neben dem sie reizenden Wort „Staatsverschuldung"
Schwerpunkte wie die Achtung der Menschenwürde, das
Recht der ungeborenen Kinder auf Leben, die Werte von Ehe und
Familie, die Sicherung des Friedens, völlig übersehen.
Aber davon abgesehen: Dieses Hirtenwort wollte und konnte
nicht alle Aussagen wiederholen, die von den Bischöfen etwa zu
Q 218, zur Euthanasie, zum Terrorismus, zur Entwicklungshilfe,
zur Sozialhilfe schon gemacht worden sind. Es konzentriert sich
bewußt auf besonders aktuelle Themen. Daß wir andere Aufgaben
nicht vergessen, zeigt sich darin, daß die Deutsche Bischofskonferenz
in der kommenden Woche eine Erklärung zur Umweltproblematik
abgeben wird und daß heute die Bischöfliche Kommission
für die Weltkirche zu einem wichtigen Aspekt der Ausländerfrage
konkret Stellung genommen hat.
Ich verwahre mich gegen die Unterstellung, die Bischöfe hätten
in ihrem Schreiben die Wahlparolen einer Partei übernommen.
Unsere Aussage zur Wahl entspricht den Grundsätzen der katholischen
Soziallehre. Es liegt in der Entscheidung der Parteien, ob
ihre Programme diesen Grundsätzen zustimmen oder diese
Grundsätze ablehnen.
Es ist unsere erklärte Absicht, mit unserem Wort zum inneren
Frieden in unserem Land zu mahnen. Aus diesem Grund haben
wir folgenden Satz geschrieben: „Keine demokratische Partei
sollte der anderen den Willen zum Frieden oder die Fähigkeit,
ihm in Politik und Diplomatie zu dienen, absprechen." Die Tatsache,
daß diese Aussage von manchen als eine einseitige Parteinahme
verstanden wird, zeigt den Tiefstand der politischen Kultur
in unserem Land und gleichzeitig die Notwendigkeit unserer
Mahnung.
Das Hirtenwort wird wie beschlossen in den Gottesdiensten der
katholischen Kirchengemeinden am kommenden Samstag und
Sonntag verlesen und allen interessierten Bürgern zugänglich
gemacht.
18. September 1980
Joseph Kardinal Höffner
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz |