... dann
steht die Jahresendflügelfigur vor der Tür
Nun ist es bald wieder soweit. In genauer Erfüllung der
hochgesteckten Ziele unseres Zwölfmonatsplans nähert sich nun das Jahresende. Wie
wir aus dem Studium der Klassiker wissen, handelt es sich dabei um eine
besinnliche Zeit. Sie gibt uns Gelegenheit zur Rückschau auch auf jene Formen
ostdeutschen Wehnachtsbrauchtums, die zwar seit acht Jahren der
Vergangenheit angehören, aber dennoch unser völkerkundliches Interesse
verdienen.
Schließlich war es einfach großartig, wenn die abschließende
Ernteschlacht hinter uns lag und der letzte aller vier Feinde des
Sozialismus (Frühling, Sommer, Herbst, und Winter) sich anschickte, Einzug zu
halten. „Morgen, Kinder wird’s was geben“, klang es hoffnungsfroh aus dem
Radio. Nur der staatliche Einzelhandel hatte davon natürlich wieder kein
bisschen mitbekommen, denn es gab bei ihm auch morgen nur das Übliche, nämlich
nichts. Oder sagen wir so: Außer dem fehlenden Frischobst war nun auch noch
kein Zitronat im Angebot.
Seit Wochen schon zermaterten sich die Weihnachtsmänner des
Politbüros die Köpfe darüber, welche Art von Südfrüchten sie durch Umschichtung
der ewig schwindsüchtigen Devisenvorräte noch herbeizaubern konnten. Und das
Ergebnis war wie immer absehbar – es würde die gefürchteten Kuba-Orangen
geben, kleine gummiartige, völlig ungenießbare Kullerchen, die sich heute im
Westen als Flummis verkaufen ließen.
Aber heimelig war’s doch: Der Strom schwankte zum Beispiel
so nett, dass alle Glühlampen flackerten und ganz von selbst Kerzenschein
stimulierten. Und in der Neubauwohnung war die Gemütlichkeit kaum noch zu
ertragen, denn die Heizung ließ sich nicht drosseln, so dass man immer mehr
Fenster aufreißen musste, je kälter es draußen wurde. Das war aber keineswegs
schlecht, denn man konnte auf diese Weise ein Wort mit seinen Nachbarn aus der Hausgemeinschaft
wechseln und erfuhr ganz beiläufig, dass in der HO-Kaufhalle die ersten
Leckereien zum Fest eingetroffen sein sollten. Also nichts wie hin und selber
nachgesehen. Es waren dann doch nur die üblichen
Weihnachtsschokoladenhohlkörper, die statt nach Kakao immer nach Mehl
schmeckten, und dazu jener zuckersüße Fondant-Baumbehang, den der staatliche
Zahnarzt seinen Lieben schenkte, damit er über die Feiertage das Plombieren
nicht verlernte. Immerhin: Uns war bei dieser Gelegenheit der Baum eingefallen.
Den mussten wir ja auch noch besorgen.
Auf dem Verkaufsgelände herrschte schon Hochbetrieb. Vor den
Augen eines gelangweilten Kassierers schichteten mehrere Dutzend Familien
irgendwelche grünen Gebilde um, die eher an plattgedrückte Grabdecken als an
richtige Nadelbäume erinnerten. Der laufende Meter kostete um die zwei Mark, so
dass man sich oft gleich zwei Stück davon leistete. Zu Hause angekommen, wurden
die Äste eines Exemplars sorgfältig abgesägt und mit Hilfe des Klebstoffs Duosan
Rapid ringsum in den Stamm des zweiten implantiert. Fertig! Professor
Brinkmann wäre angesichts dieser chirurgischen Fingerfertigkeiten vor Neid
erblasst, aber er ahnte im fernen Schwarzwald wahrscheinlich gar nichts von
unseren kniffligen Operationen.
War ja auch egal, Hauptsache Tante Trudchen aus Bochum
dachte an uns, am besten in Form eines Westpakets. Knallmeier-Kaffee und
Pilmolav-Seife, die wirklich schäumte, würde uns dann beglücken. Hoffentlich
auch ein bisschen Blei-Lametta, andernfalls war Bügeln angesagt: Die alten
Ost-Stanniol-Streifen vom Vorjahr mussten mit dem Weisen wieder sorgfältig
geglättet werden, damit sie wenigstens zur Bescherung einigermaßen glatt an den
Zweigen hingen. Lange hielt das ohnehin nicht vor, denn sobald jemand den Strassfurt-Fernseher
einschaltete oder mit einem elektrisch aufgeladenen Wolpryla-Pullover
vorbeiging, klappte der Baum so schlagartig das Lametta hoch wie sonst
höchstens noch Knecht Ruprecht die Rute.
Apropos Fernseher. Das Feiertagsprogramm/West hatten wir ja
schon in einer eigens von der ARD zu diesem Zwecke eingerichteten Diktierstunde
persönlich zu Papier gebracht. Aber was sie im Osten ausstrahlen würden, blieb
unklar. Die einzige Fernsehzeitung FF Dabei war reine Bückware,
das heißt, man bekam sie nie auf dem Ladentisch zu sehen, von exotischen
Zuständen wie einem Abonnement ganz zu schweigen. Am ersten Feiertag würde
wahrscheinlich wie immer die Sendung Zwischen Frühstück und Gänsebraten
kommen. Deren Moderator litt leider an einer gleichermaßen verbreiteten wie
unheilbaren Berufskrankheit – der zwanghaften Vorstellung, komisch zu sein. Auf
diesem Gebiet hatte er jedoch mit starker Konkurrenz zu kämpfen, wenngleich aus
unerwarteter Richtung: Die alljährliche Neujahrsansprache der Gattin des
Parteichefs war nämlich ernst gemeint, aber trotzdem an Komik kaum zu
überbieten.
Doch bis zu diesem Höhepunkt der sozialistischen Unterhaltungskunst
mussten noch ein paar Hürden genommen werden. Zunächst galt es, die Gaben für
den gleichnamigen Tisch zu besorgen. Mutti wünschte sich Pumps aus der Gestattungsproduktion
(Nur wo Salaman der draufsteht, sind auch Banner-Schuhe drin). Die kosteten zwar
ein Heidengeld, aber wir hatten ja unsere Jahresendprämie in der Tasche.
Dort gehörte sie auch hin, denn der Betrag ähnelte weniger einem 13.
Monatsgehalt als einem zweiten Taschengeld. Immerhin – für Oma gab er sogar
noch eine Aschachtel Rotstern-Pralinen her, bekannt und beliebt für ihre
leichte Gipsnote. Zum Schluss für den Sohnemann noch ein Plüschbären der Sorte Mischka
erworben – wegen der Freundschaft zur Großen ruhmreichen Sowjetunion – und das
war’s dann.
Nein halt, noch nicht ganz. Ein paar Tage vor dem Fest rief
uns ja noch das Arbeitskollektiv zum geselligen Beisammensein; dort
stand nämlich die Brigadefeier auf dem Programm. Bei dieser kollektiven
Maßnahme mussten unbedingt die letzten Reste des gewerkschaftlichen K- und
S-Fonds verbraten werden, denn auf diesem Gebiet war die deutsche Einheit
schon lange vor 1990 vollendet: Wer zum Jahresende noch zweckgebundene Mittel
übrig hatte, bekam sie auch im Osten zum nächsten Jahr garantiert gekürzt. Der
Zweck K und S bedeutete eigentlich Kultur- und Sozial-, dich er erfuhr
auf der Feier stets die praktische Übersetzung in Korn und Salzstangen.
Solchermaßen beschwingt wieder zu Hause angekommen, konnten
wir schließlich darangehen, die Weihnachtsutensilien aus den Schränken zu
holen: jenen Schwibbogen zum Beispiel, den wir in wochenlanger Heimarbeit
selbst gesägt hatten, weil die erzgebirgischen Originale immer in den NSW-Export
gingen. Das hieß „Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet“ und belegte sehr
schön den berühmten ostdeutschen Aküfi (Abkürzungsfimmel). Eine andere
Schachtel, die wir hervorzogen, trug dagegen eine ganz und gar nicht abgekürzte
Bezeichnung, nämlich Jahresendflügelfigur. Drinnen steckte jedoch ein
Christkind oder Weihnachtsengel, aber nie im Leben Jahresdings, - na Sie wissen
schon.
Als dann endlich alles beieinander war, konnten wir uns
zufrieden, wenn auch etwas ermattet, in den Sessel fallen lassen. Als Jäger und
Sammler waren wir auch diesmal wieder unschlagbar gewesen. Und was konnte es
Schöneres zum Lohn geben, als den Gesang unserer glücklichen Familie die nun
das Lied anstimmte: „O du ölige, o du mehlige, bratenbringende
Jahresabschlussbilanzzeit.“
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Quelle: www.unterhaltungsspiele.com
Stefan Neubert, 2001. www.stefan-neubert.de
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