Die Zukunft des Sozialstaats heißt "sparen, sparen,
sparen!" Sozialhilfe nur noch für arme Erwerbsunfähige, Arbeitslosengeld für
höchstens 18 Monate - und die Rente wird zur Grundsicherung: Nur so ist die
Überforderung des Wohlfahrtsstaats zu verhindern. Und selbst dann wird die
Alterung der Gesellschaft uns alles abverlangen
Das sichere Ruhekisse - unsere soziale
Sicherung
Seit den siebziger Jahren wird in Deutschland rund
ein Drittel des Erwirtschafteten für soziale Zwecke vom Arbeitslosengeld über
die Jugendhilfe bis hin zur Rente ausgegeben. 2001 waren das 676
Milliarden Euro oder 8250 Euro pro Kopf der
Bevölkerung. Von diesen Ausgaben fließen etwa 80 Prozent über die vier großen
Sozialsysteme der gesetzlichen Alterssicherung, der Kranken- einschließlich der
Unfallversicherung, der Pflegeversicherung und der Arbeitslosenversicherung
sowie über die Sozialhilfe.
Die Mehrzahl der Bürger ist mit diesen Leistungen zufrieden. Allerdings
fühlt sich immerhin gut ein Fünftel bei Krankheit, mehr als ein Drittel im Alter
und ein noch größerer Anteil bei Arbeitslosigkeit durch die Sozialsysteme nur
schlecht versorgt. Der Anteil derer, die die Sozialleistungen hingegen als zu
hoch ansehen, ist gering.
Umgekehrt stöhnt die große Mehrheit über die Kosten des Sozialaufwands.
17 Prozent fühlen sich von ihnen überfordert, für weitere 58 Prozent liegen sie
an der Grenze des Erträglichen. Dass das kein leeres Gerede ist, beweisen jene
etwa zehn Millionen Erwerbstätigen, die als Voll- oder Teilzeitkräfte mehr oder
minder regelmäßig schwarzarbeiten und sich so den Anforderungen des Sozialstaats
entziehen. Ganz ähnlich verhält sich die große Schar derer, die zu den
fragwürdigsten Mitteln greift, um ihre Steuerlast zu mindern.
In der Mühle dieses Widerspruchs wird der Sozialstaat zerrieben. Seine
Leistungen können nicht opulent genug sein. Doch bei der Bezahlung dieser
Wohltaten zeigen sich die Bürger zugeknöpft. Dabei steht dem Sozialstaat seine
eigentliche Bewährungsprobe erst noch bevor. Der Grund: die rapide Alterung der
Bevölkerung.
Im Alter stärker auf Leistungen aus den Sozialsystemen angewiesen
Menschen ab 55 Jahren sind die mit Abstand wichtigsten Empfänger
sozialer Leistungen. Anfangs beanspruchen sie in steigendem Maße die Kranken-
und Arbeitslosenversicherung. Wenige Jahre später setzen massive Renten- und
Pensionszahlungen ein. Zwar erlöschen damit Ansprüche an die
Arbeitslosenversicherung. Gleichzeitig steigen jedoch die Lasten für die
Krankenversicherung weiter; zudem mehren sich die Pflegefälle. Die Folge: Je
älter die Bevölkerung wird, desto höher wird auch der Sozialaufwand. Die Zahlen
sprechen eine deutliche Sprache.
Eine halbe Million Bürger ist älter als 90 Jahre
Als in den fünfziger Jahren die großen sozialen Sicherungssysteme ihren
heutigen Zuschnitt erhielten, war die Bevölkerung jung. Am Ende jenes
Jahrzehnts, 1960, hatten erst 17 Prozent das 60. und 2Prozent das 80. Lebensjahr
überschritten. 53 000 Bürger waren älter als 90. 100 20- bis 60-Jährigen standen
31 über 60-Jährige gegenüber. Bis heute hat sich der Anteil der über 60-Jährigen
auf 24 Prozent, jener der über 80-Jährigen auf 4 Prozent und die Zahl der über
90-Jährigen auf rund 500 000 erhöht. 100 20 bis 60-Jährigen stehen jetzt 43 über
60-Jährige gegenüber.
Bereits diese recht mäßige Zunahme des alten Bevölkerungsteils hat in
Verbindung mit wachsender Arbeitslosigkeit die sozialen Sicherungssysteme in
größte Schwierigkeiten gebracht. Das ursprüngliche politische Versprechen, den
individuellen Lebensstandard bei Arbeitslosigkeit oder im Alter, im Krankheits-
oder Pflegefall zu gewährleisten, wird nirgendwo mehr eingelöst. Überall werden
unvermeidliche Einschnitte vorgenommen. Würde heute beispielsweise die Eckrente
nach der bis 1977 gültigen Methode berechnet, wäre sie um ein Drittel höher, als
sie tatsächlich ist. Kaum anders sieht es bei den übrigen Sicherungssystemen
aus. In der Krankenversicherung wird der Leistungskatalog fortlaufend kürzer,
während die Selbstanteile steigen. Auch bei der Arbeitslosenversicherung wird
ungleich spitzer gerechnet als früher. Trotzdem sind die Abgaben für soziale
Zwecke bis in jene Höhen gestiegen, die viele nicht mehr erklimmen können oder
wollen. Dabei war das alles nur ein Vorgeplänkel. Der große Alterungsschub kommt
noch.
Bis 2040 dürfte der Anteil der über 60Jährigen an der Gesamtbevölkerung auf
40 Prozent steigen. 100 20- bis 60-Jährigen werden dann 86 über 60-Jährige
gegenüberstehen - doppelt so viele wie gegenwärtig. Mehr als jeder zweite
Erwachsene wird älter als 55 Jahre sein und sich damit in der sozialpolitisch
besonders relevanten Lebensphase befinden. In einer Bevölkerung, die ohne
Zuwanderer voraussichtlich noch etwa 66 Millionen Menschen zählen wird, werden 7
Millionen älter als 80 und 1,4 Millionen älter als 90 Jahre sein.
Schätzungsweise 100 000 werden das 100. Lebensjahr überschritten haben. Diese
Zahlen sind keineswegs spekulativ. Alle, die 2040 älter als 38 Jahre sein
werden, sind nämlich schon unter uns, namentlich die dann 60-, 80- und
90-Jährigen.
Verschiebungen könnte es nur noch im zahlenmäßigen Verhältnis von den
Jüngeren zu den Älteren geben, weil in Zukunft der Renteneintritt
hinausgeschoben und darüber hinaus die Reihen der Jungen möglicherweise durch
einen Zustrom junger Zuwanderer oder einen Wiederanstieg der Geburtenrate
gestärkt werden. Aber selbst dann werden ohne tiefgreifende Veränderungen der
Sozialsysteme der aktiven Generation künftig Lasten aufgebürdet, die ihr
schlechterdings nicht aufgebürdet werden können.
Die Zahlen sprechen für sich
Wiederum sprechen die Zahlen für sich:
Gegenwärtig führen abhängig Beschäftigte und ihre Arbeitgeber über 41
Prozent der Bruttolöhne als Sozialbeiträge an die sozialen Sicherungssysteme ab.
Werden diejenigen Steueranteile einbezogen, die ausschließlich der ergänzenden
Finanzierung dieser Systeme dienen, sind es sogar gut 50 Prozent. Hinzu kommen
sonstige Steuern. Nimmt nun der zu versorgende Altenanteil in der zu erwartenden
Größenordnung zu, steigt bei Beibehaltung der derzeitigen Sozialsysteme die
Belastung der Aktiven unter optimistischsten Annahmen auf mindestens zwei
Drittel, abermals zuzüglich Steuern. Ein solches Szenario darf nicht
Wirklichkeit werden. Schon heute macht der Unmut der Bevölkerung über die hohen
Abgaben den Parteien zu schaffen. Deshalb versprechen sie in seltener
Einmütigkeit, den Aufwand des Staates nicht nur nicht weiter zu erhöhen, sondern
ihn sogar deutlich zu senken. Seit langem geht etwa die Hälfte der jährlich
erwirtschafteten Mittel durch die öffentliche Hand. Binnen weniger Jahre sollen
es nur noch etwa 40 Prozent sein.
Dabei wissen alle Kundigen, dass diese Rückführung im Wesentlichen zu
Lasten des Sozialbereichs gehen muss. Denn der hat mit zwei Dritteln der
Staatsausgaben nicht nur das größte Volumen. Entscheidend ist, dass in den
anderen Bereichen - innere und äußere Sicherheit, Schulen und Universitäten,
Straßen und Brücken oder Kunst und Kultur - nur wenig zu holen ist. Deshalb
müssen die Ausgaben im Sozialbereich um mindestens 25, eher aber um 30 Prozent
sinken, wenn die Staatsausgaben, wie versprochen, um ein Fünftel zurückgeführt
und die sonstigen Aufgabenbereiche - wie sachlich geboten - hiervon nur marginal
berührt werden sollen.
Und das bei einem steilen Anstieg der Zahl Leistungsberechtigter! Nimmt
diese Zahl in den kommenden 40 Jahren auch nur um die Hälfte zu, erneut eine
extrem systemstützende Annahme, und soll die Rückführung des Staatsanteils
erstens nicht bloßes Wortgeklingel und zweitens von gewisser Dauer sein, sinken
die Sozialleistungen auf etwa die Hälfte ihres derzeitigen Niveaus. Absolut
könnte ein Teil dieses Rückgangs durch das Wachstum der Wirtschaft abgefangen
werden. Doch müsste dieses Wachstum erheblich stärker als in der jüngeren
Vergangenheit sein, um auch nur absolute Einkommensverluste zu vermeiden. Ob das
in einer rapide alternden Bevölkerung gelingt, sei dahingestellt. Programmiert
ist hingegen in allen Sozialbereichen ein massiver Rückgang des relativen
Versorgungsniveaus, das für die Aufrechterhaltung des Lebensstandards maßgeblich
ist. Damit wird genau das eintreten, wogegen sich die meisten stemmen und wovor
der Politik graust: Bei einer allenfalls mäßig sinkenden Abgabenlast werden die
Sozialleistungen - zumindest gemessen am Wohlstand der Bevölkerung -
abstürzen.
Die Politik verharmlost die Probleme
Die Politik weiß nicht, wie sie dieser Entwicklung begegnen soll. Zu lange
hat sie den Handlungsbedarf geleugnet, und auch heute erkennt sie ihn nur
zögernd an. Die Parteiprogramme zur Bundestagswahl 2002 spiegeln das wider. Um
die Stimmungslage der Bevölkerung zu treffen, nähren alle weiterhin
Illusionen. Am mutigsten sind noch die kleinen Parteien (wie zum Beispiel die deutsche Zentrumspartei - Anmerkung von Tobias Heinz). Sie wagen, die
Herausforderungen zumindest andeutungsweise zu benennen.
Was diese jedoch letztlich für die Bürger bedeuten, bleibt auch bei ihnen
im Dunkeln. Die beiden Großen geben sich wolkig. Die SPD meint, insbesondere mit
ihrer Rentenreform schon genug Zukunftsweisendes getan zu haben. Die Union setzt
ein wenig stärker auf Eigenvorsorge, deren Ausmaß sie aber sorgfältig unter der
Decke hält. Das Fazit aus diesen Programmen ist: So lassen sich die anstehenden
Probleme nicht lösen. Die Lösung ist: von der staatlich organisierten
Lebensstandardsicherung der Bevölkerungsmehrheit zur solidarischen
Grundsicherung für alle. Wer diesen Weg nicht mitgehen will, muss die Gesetze
der Mathematik außer Kraft setzen.
Der Anfang des Umsteuerns - Hartz IV
Das Umsteuern beginnt bei der Sozialhilfe (das ALGII der Hartz IV Reform
ist hier ein zaghafter Anfang). Auf sie sollten künftig nur noch mittellose
Nichterwerbsfähige Anspruch haben. Für mittellose Erwerbsfähige werden
hingegen nicht Sozialämter, sondern Beschäftigungsagenturen zuständig sein, die
die derzeitigen Arbeitsämter ersetzen. Diese Beschäftigungsagenturen weisen den
Leistungsberechtigten reguläre Erwerbsarbeit oder gemeinnützige Tätigkeiten oder
unter Umständen beides nach. Erzielt ein Leistungsberechtigter in seiner
Erwerbsarbeit ein Nettoeinkommen in Höhe des individuellen Sozialhilfeanspruchs
eines Nichterwerbsfähigen (zuzüglich eines arbeitsbedingten Mehraufwandes), hat
sich der Fall erledigt. Bleibt sein Nettoeinkommen darunter, erhält er ein
ergänzendes Sozialgeld. Dieses Sozialgeld beträgt 100 Prozent
des individuellen Sozialhilfeanspruchs, wenn Leistungsberechtigte ausschließlich
gemeinnützige Tätigkeiten ausüben. Verweigern sie sich solchen Tätigkeiten,
erlischt der Sozialgeldanspruch. In den Grundzügen ist diese Regelung im
geltenden Recht bereits angelegt. Sie bedarf jedoch der Weiterentwicklung und
konsequenten Umsetzung.
Jeder dritte Arbeitslose strebt nicht ernsthaft einen Job an?
Damit ist zugleich eine Brücke zur Reform der Arbeitslosenversicherung
geschlagen. In einem ersten Schritt sind alle registrierten Arbeitslosen
herauszufiltern, die - aus was für Gründen auch immer - nicht ernsthaft eine
Beschäftigung anstreben. Das ist bei schätzungsweise jedem Dritten der Fall.
Umso besser können die Beschäftigungsagenturen ihre Vermittlungsbemühungen auf
die wirklich Arbeitssuchenden konzentrieren. Dabei sollten Arbeitnehmer den
Verlust ihres Erwerbseinkommens - oder anders gewendet: die Aufrechterhaltung
ihres individuellen Lebensstandards - nur für 12 oder allenfalls 18 Monate
versichern müssen. Wer länger versichert sein will, kann privat Vorsorge
treffen. Nach Ablauf des gesetzlichen und gegebenenfalls privaten
Versicherungsschutzes sollte auch in der Arbeitslosenversicherung das Prinzip
der solidarischen Grundsicherung gelten. Von diesem Zeitpunkt an haben alle
gleiche Rechte und Pflichten. Nur wer die Voraussetzungen der Sozialhilfe
erfüllt, erhält ein Sozialgeld, sofern er die entsprechenden Gegenleistungen
erbringt. Das Sozialgeld ist steuerfinanziert.
Die Beschäftigungsagentur sollte künftig die erste und wichtigste
Anlaufstelle für mittellose Erwerbsfähige und Arbeitssuchende sein. Sie
unterstützt ihre Kunden bei der Arbeitsplatzsuche und vermittelt gemeinnützige
Tätigkeiten; sie gewährt individuellen Versicherungsschutz in Form von
Arbeitslosengeld und Sozialtranfers in Form von Sozialgeld. Diese Agenturen
sollten öffentlichrechtlich organisiert sein, aber möglichst viele Aufgaben an
private Dienstleister übertragen. Das gilt insbesondere für die Vermittlung von
Arbeitsplätzen und gemeinnützigen Tätigkeiten.
Als Folge dieser Maßnahmen müsste der Aufwand sowohl für die Sozialhilfe als
auch für die Arbeitslosenversicherung beträchtlich sinken und sich die Dynamik
des Arbeitsmarktes erhöhen. Die Vorgabe der Sozialpolitik, die künftig Aktiven
nicht unzumutbar mit Soziallasten zu befrachten, würde ein Stück weit
erfüllt.
Reform der Alterssicherung
Ungleich zeitaufwändiger ist die Reform der gesetzlichen Alterssicherung.
Gegen die Rentenkasse haben viele Millionen Versicherte Ansprüche im Gesamtwert
von ungefähr 4000 Milliarden Euro erworben. Diese bilden in den meisten
Haushalten den wichtigsten Vermögensbestandteil und die tragende Säule der
Alterssicherung. Deshalb dürfen sie durch eine Reform nicht beschädigt werden.
Ebenso zwingend ist jedoch, dass im Hinblick auf die demografische Entwicklung
keine weiteren Ansprüche dieser Art aufgebaut werden. Ihre Befriedigung würde
die künftig Aktiven hoffnungslos überfordern. Auch für die gesetzliche
Alterssicherung gilt: Rückführung auf eine Grundsicherung.
Eine solche Grundsicherung könnte unter Wahrung der aktuell bestehenden
Rentenversicherungs- und Pensionsansprüche und ohne zusätzliche Belastung der
Aktiven über einen Zeitraum von etwa 25 Jahren eingeführt werden. Während die
bestehenden Verpflichtungen schrittweise abgebaut würden, ließen sich die
Grundsicherungsansprüche nach und nach aufbauen. In 25 Jahren hätten sie - im
Geldwert von heute - ihr volles Volumen von monatlich 825 Euro pro Kopf
erreicht, also 1650 Euro für den Zweipersonenhaushalt. Zugleich wären in dieser
Zeit die meisten Individualansprüche auf ein Niveau unterhalb des
Grundsicherungsniveaus gesunken. Faktisch würden zumeist nur noch
Grundsicherungen gewährt. Auf diese Grundsicherung hätten alle Anspruch, die
während einer gewissen Zeit ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland hatten, also
nicht nur abhängig Beschäftige, sondern auch Selbstständige, Beamte,
Parlamentarier oder Hausfrauen und -männer. Da alle in den Genuss dieser
Grundsicherung kommen, sollten auch alle zu ihrer Finanzierung beitragen. Das
spricht für eine Steuerfinanzierung. Steuer zahlt nämlich jeder, der hier lebt -
zumindest Verbrauchssteuern. Die aktive Generation würde in den dreißiger
Jahren, wenn der zu versorgende Bevölkerungsanteil am größten sein wird, mit der
Finanzierung der Grundsicherung relativ genauso belastet, wie die derzeit
Aktiven durch Renten- und Pensionszahlungen belastet sind. Diese Belastung
sollte die Grenze des wirtschaftlich und politisch Zumutbaren
markieren.
Die Jungen werden deutlich mehr beansprucht
Durch die Umstellung der Alterssicherung auf eine allgemeine und gleiche
Grundsicherung wäre Altersarmut, die durch das Absinken des Rentenniveaus im
bestehenden System absehbar ist, gebannt. Im bestehenden System muss - nicht
zuletzt aufgrund der immer brüchiger werdenden Erwerbsbiografien - eine rasch
wachsende Zahl alter Menschen zu Empfängern von "bedarfsorientierter
Grundsicherung", sprich Sozialhilfe, werden. Die steuerfinanzierte, solidarische
Grundsicherung bildet demgegenüber ein solides Versorgungsfundament, auf dem der
Einzelne entsprechend seinen Möglichkeiten und Neigungen eine private
Zusatzversorgung aufbauen kann. Zweifellos wird der Aufbau dieses privaten
Vorsorgeteils die künftig Aktiven zusätzlich beanspruchen. Das aber ist,
unabhängig vom System, unvermeidlich.
Die größten Schwierigkeiten bereitet die notwendige Umgestaltung der
Krankenversicherung. Sie kann wie die gesetzliche Alterssicherung auf eine
solidarische Grundsicherung umgestellt werden, die durch private
Vorsorgemaßnahmen ergänzt wird. Allerdings würde das zu einer Mehrklassenmedizin
führen. Sozialer ist die Privatisierung des medizinischen Alltagsbedarfs und die
kollektive Finanzierung überdurchschnittlicher Krankenkosten.
Mit Ausnahme chronisch Kranker trägt jeder in gewissem Umfang seine
Aufwendungen selbst, wobei in Ausnahmefällen Sozialhilfe beansprucht werden
kann. Erst wenn dieser "Selbstbehalt" von beispielsweise 600 Euro im Jahr
erschöpft ist, kann der Einzelne die Versichertengemeinschaft in Anspruch
nehmen. Parallel dazu ist eine nachhaltige Gesundheitserziehung erforderlich,
die sich an die großen Hygienekampagnen des 19. Jahrhunderts anlehnen könnte.
Nach der gleichen Blaupause ist die Pflegeversicherung zu reformieren.
Doch sei vor Illusionen gewarnt. Alle diese Reformen, so dringlich und
notwendig sie auch sind, können die Folgen des demografischen Umbruchs nur
mildern, nicht jedoch beseitigen. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten werden
wir eine Suppe auslöffeln müssen, die wir uns im Laufe einer Generation
eingebrockt haben. Der Sozialstaat hat die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit
überschritten, und gleichzeitig explodieren demografiebedingt die an ihn
gerichteten Anforderungen. Die Folgen sind unschwer vorhersehbar. Dass Politik
und Bürger nur allzu geneigt sind, die Augen vor ihnen zu verschließen, ist
verständlich, aber verhängnisvoll.
Meinhard Miegel leitet das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn e.V.
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