Manchmal denke ich mir, daß sich die Menschen während der Pest nicht viel
anders gefühlt haben müssen. Überall schwarz beflecktes Fleisch. Gerade jetzt
im Sommer kommt es mir so vor, als gebe es niemanden mehr, der keine
Tätowierung hat.
Neulich in der S-Bahn wurde ich unfreiwilliger Zeuge eines Gesprächs unter
zwei jungen Mädchen, in dem die eine, der anderen erzählte, daß Sie in der
nächsten Woche volljährig würde. Dann nahm das Gespräch jedoch eine Wendung,
die wohl niemand so hätte voraussehen können. Die junge Dame zog ein
grell-buntes Heftchen aus dem Eastpak Rucksack, der so anscheinend zur uniformen
Standardausrüstung der Teenager gehört, und in diesem Heftchen deutete sie die
absurdesten großflächigen Tätowierungen aus: "Und DAS lasse ich mir dann
hier (deutet auf den Hals) hinmachen, und das", ein riesiges schwarzes
Monster, "kommt dann auf den Rücken und das hier (zeigt auf zwei
Schlangen) lasse ich auf die Beine stechen. Zum Glück habe ich das Geld, daß
mir die Omi für den Führerschein gegeben hat.".
Bis vor kurzer Zeit hätte ich bei einem Tätowierten auf einen Seemann,
einen Knastbruder oder an einen Menschen aus dem sog. Milieu gedacht, heute sind
die "befleckten" fast schon Normalität. Tätowierstuben schießen aus
dem Boden wie Dönerbuden!
Natürlich kann man in unserer liberalen bzw. liberalistischen Welt ernsthaft
darüber diskutieren, ob es erlaubt sein sollte, daß volljährige Mädchen
und Buben sich die weiße Haut mit schwarzen Monster "bemalen"
lassen. Wahrscheinlich wird in wenigen Jahren auch ein lukrativer Markt für
spezialisierte Ärzte entstehen, die sich auf das "schonende"
Entfernen von Tätowierungen spezialisieren. Insgesamt gibt es aber zu denken,
warum etwas so Radikales wie Tätowierung bei uns zur Normalität werden kann.
Nicht nur, daß die Krankenkassen für die aus misslungenen Tätowierungen
herrührenden Komplikationen aufkommen - das zahlen wir immerhin alle. Daß es
aber eine breite Akzeptanz unter Eltern, Lehrern, Arbeitskollegen und
Arbeitgebern dafür gibt ist erstaunlich. Vor wenigen Jahren wurde schon über
einen unangemessenen Haarschnitt diskutiert.
Die Frage dabei ist: hat sich dadurch etwas für die Menschen verbessert?
Während bisher viele durch die Konventionen geholfen bekamen, in Ihrem Leben zu
bestehen, steht heute permanent jeder vor Entscheidungen, mit denen er eventuell
überfordert ist. Einfache Entscheidungen bei denen man früher einfach wie
durch einen "Autopiloten" gesteuert erst garnicht auf die Idee kam,
sondern es als gegeben hinnam, daß MAN SO ETWAS EINFACH NICHT MACHT.
Heute wird alles zu einer individuellen Entscheidung. Lasse ich mir
eine/zwei/viele Tätowierungen stechen, lasse ich mir ein/zwei/viele Piercings
machen, fange ich an zu rauchen, zu trinken oder Drogen zu nehmen? Lasse ich
eine kosmetische Operation durchführen? Menschen jeden Alters werde auf Ideen
gebracht und zu individuellen Entscheidungen genötigt, die früher nicht
notwendig waren, und viele sind damit überfordert.
Bei einer Entscheidung überfordert zu sein, heißt dann aber in der Regel,
sich an Anderen zu orientieren. An die Stelle von abstrakten, bewährten und
seit Jahrhunderten etablierten Regeln treten so Fernsehen (wo jeden Tag über
die absonderlichsten Monstrositäten berichtet wird, als wäre es die
erstrebenswerteste Normalität) und die wirtschaftlichen Interessen der
Industrie, die über gezielte Werbung die Entscheidungen beeinflußt.
Systematisch ist so an die Stelle von langfristiger gesellschaftlicher Steuerung
die Macht von kommerziellen Interessengruppen getreten.
Es ist erschreckend, diese ferngesteuerten Zombies zu sehen, denen die
Industrie (häufig schon mit 12) eine Zigarette in die Hand gedrückt hat, die
das Gesicht voller Blech haben und deren Körper die neuesten Motive aus den
zahlreichen mit Werbung vollgestopften Tätowierzeitschriften verunzieren.
Oft möchte ich laut rufen: "Wie könnt Ihr nur! Selbst wenn Ihr, was
unwahrscheinlich ist, diese furchtbaren Flecke in einigen Jahren nicht bereut,
selbst wenn Ihr nicht an Krebs erkrankt und selbst wenn die Krater der Piercings
wieder verheilen. Wie könnt Ihr Euch nur so mit Haut und Haaren - im wahrsten
Sinne des Wortes - fernsteuern lassen." Doch dann bin ich wieder liberal
und denke, daß jeder auf seine Art glücklich werden soll und lasse die
Gestalten, von denen sich fast keiner mehr von dem anderen unterscheidet,
unbehelligt an mir vorbeiziehen.
|