Zwei Gerichtsurteile gehen dieser Tage (Oktober 2003) durch die Presse, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben.
Das eine gesprochen vom Landgericht (Az. 9 O 11360/03), das andere des Bundesverfassungsgerichts (2 BvR 1436/02). Es handelt sich bei dem einen Urteil um das Verbot des Romans "Meere" von Alban Nikolaj Herbst und bei dem anderen um das Aushebeln der Entscheidungen aller Vorinstanzen bis zum Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung, das Tragen eines Kopftuches als "Ausübung der Religionsfreiheit" im Sinne des Grundgesetzes zu betrachten.
Allzuoft provozieren Entscheidungen von Gerichten beim "Normalbürger" nur noch Kopfschütteln. Es scheint als wenn sich Richter in einer abgeschotteten Parallelwelt bewegen und in einem System von verklausulierten Formeln Entscheidungen entstehen, die von Vielen als für die Gesellschaft schädlich angesehen werden.
Was auffällt ist, daß viele Urteile anscheinend völlig ohne Berücksichtigung der historischen und kulturellen Gegebenheiten gefällt werden. An die Stelle des Gemeinwohls tritt das subjektive Befinden Einzelner.
Erwarten sollte man eigentlich, daß besonders Richter sich der Geschichte, die immer auch Rechtsgeschichte ist, bewußt sind und Entscheidungen fällen, die in der positiven historischen Tradition unserer Gesellschaft stehen.
Bei Alban Nikolaj Herbsts Buch handelt es sich um einen Roman mit autobiographischen Zügen, eine Kunstgattung, die Werke wie Goethes Werther oder Thomas Manns Buddenbrooks einschließt. In all diesen Werken konnten und können sich reale Personen des wirklichen Lebens wiedererkennen.
Nichtsdestotrotz handelt sich bei den Werken um "Fiktion", d. h. von den konkreten Realitäten abstrahierte Werke, bei denen nicht die Realität im Vordergrund steht, sondern die Kunst. Die Freiheit der Kunst ist, nicht zuletzt nach den Bücherverbrennungen des dritten Reiches, eine hohes Gut unserer Kultur.
Persönliche Empfindlichkeiten dürften daher nicht über das Bedürfnis unserer Gesellschaft gestellt werden, die Kunst und deren Freiheit zu schützen. Es darf also nicht darum gehen, ob ein Einzelner sich im Charaktere eines Romans wiedererkennt und beleidigt oder verunglimpft fühlt, sondern darum, daß ein Werk der Gattung Fiktion zuzurechnen ist. Das Individuum erlangt Vorrang vor abstrakten, transzendenten Werten wie Kunst, Kultur oder Gesellschaft.
Vielleicht zeigt genau dieses Urteil das Ergebnis einer in den letzten Jahren immer schneller voranschreitenden Entchristlichung unserer Gesellschaft. Als Resultat von Entchristlichung hat schon Friedrich Nietzsche eine atomistische Revolution vorausgesehen: Die herkömmliche Gesellschaft zerfällt, die Individuen verstehen sich als Partikel des Systems, kreisen nur um sich und ihre Interessen. Diese totale Privatisierung gehe einher mit totalem politischen Desinteresse der Menschen, versorgt in einem totalen Sozialstaat. Als Konsequenz der Vereinzelung löse sich die Gesellschaft in modernen Hyperliberalismus und Privatkapitalismus in der Bewegung auf.
Das andere Urteil zeigt genau dies symptomatisch auf und beweist, wie diese Gesellschaft anfällig für die Angriffe ihrer Gegner ist. Der erwähnte Hyperliberalismus äußert sich beim Kopftuchurteil. Hier steht im Vordergrund, daß die Klägerin ein Kopftuch als Ausdruck ihrer persönlichen Frömmigkeit sieht und daher das Recht der Religionsfreiheit in Anspruch nimmt - da auch die Religionsfreiheit nur noch als total privatisiertes Einzelinteresse wahrgenommen wird, kommen die Richter ohne weitergehende kollektive Bezüge aus. Dabei spielt z. B. auch die theologische Rechtfertigung islamischer Bekleidungsvorschriften keine Rolle mehr.
Unbestritten ist es, daß das Tragen eines Kopftuches keine religiöse Kleidervorschrift ist. Der Schleiher (Tschador) und noch vielmehr die Ganzkörperverhüllung (Burka) sind traditionelle Kleidungsstücke, die in den verschiedenen Regionen des Mittleren Ostens mehr oder minder verbreitet sind.
Je nach den modisch einzuschätzenden Entwicklungen einer Gesellschaft haben diese eine entsprechende Verbreitung oder nicht. Daher wurde, als am 8. November 1978 in Iran die islamische Revolution siegte, zwar der Islam zur Staatsreligion, die Scharia zum Gesetz und die religiöse Elite Machthaber im Staat, nicht aber der Schleier zu einem verpflichtenden Kleidungsstück.
Erst gut zwei Jahre nach der Revolution wurde schrittweise der Schleier Schleier eingeführt, zunächst verpflichtend auch erst in öffentlichen Gebäuden, dann schrittweise bis 1983 auch allgemein in der Öffentlichkeit.
Interessant die Begründung damals im Iran: Der Schleier war während der Jahre des Exils als politisches Statement gegen das moderne westlich orientierte Regime des Schahs verwendet worden. Viele der Demonstrantinnen hatten den Tschador nur auf Demonstrationen angezogen; ihnen wäre es niemals in den Sinn gekommen den Schleier auch in täglichen Leben oder aus religiösen Gründen anzulegen.
Daher wurde der Schleier zunächst mit der Begründung wieder eingeführt, daß dadurch die revolutionäre, anti-westliche Gesinnung dokumentiert werde, in öffentlichen Gebäuden besonders auch aus Achtung vor den dort angebrachten Gemälden der Revolutionshelden.
Mit der Ausbreitung der islamischen Revolution wurde es Schritt für Schritt notwendig, auch eine verbindliche Begründung für den Schleier zu finden, besonders um die politische Identifikation der Muslime mit den Zielen der islamistischen Führungsriegen zu bewirken und den Islam aus dem rein religiösen auch als politische Bewegung zu etablieren.
Der ebenfalls als traditionelles Kleidungsstück verbreitete Turban war dazu kaum geeignet, denn in einer der größten religiös motivierten Konfliktregionen der Welt tragen die Männer auf beiden Seiten den Turban (die Rede ist hier von Indien und Pakistan).
Die theologische Begründung des Kopftuches ist dabei streitig und tatsächlich findet sich außerhalb der arabischen Halbinsel in der islamischen Welt kein Theologe, der die entsprechende Interpretation vorbehaltlos akzeptieren würde.
Die Vorschrift stützt sich auf drei kurze Passagen des (ansonsten eher weitschweifigen) Koran:
Sure 24:31
Und sprich zu den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Blicke senken und ihre Scham bewahren, ihren Schmuck nicht offen zeigen, mit Ausnahme dessen, was sonst sichtbar ist. Sie sollen ihren Schleier auf den Kleiderausschnitt schlagen und ihren Schmuck nicht offen zeigen, es sei denn ihren Ehegatten, und [es folgt Beschreibung der Familie ...]. Sie sollen ihre Füße nicht aneinanderschlagen, damit man gewahr wird, was für einen Schmuck sie verborgen tragen. Bekehrt euch allesamt zu Gott, ihr Gläubigen, auf daß es euch wohl ergehe.
["Schmuck" wird häufig auch übersetzt als "Reize"] ["Kleiderausschnitt" wird häufig auch übersetzt als "Busen"]
Sure 24:60
Und für die unter den Frauen, die sich zur Ruhe gesetzt haben und nicht mehr zu heiraten hoffen, ist es kein Vergehen wenn sie ihre Kleider ablegen, ohne daß sie jedoch den Schmuck zur Schau stellen. Und besser wäre es für sie, daß sie sich dessen enthalten. [...]
Sure 33:59
O Prophet, sag deinen Gattinnen und deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen etwas von ihrem Überwurf über sich herunter ziehen. Das bewirkt eher, daß sie erkannt werden und daß sie nicht belästigt werden. [...]
(Quelle: Der Koran. Übersetzung von Adel Theodor Khoury. Unter Mitwirkung von Muhammad Salim Abdullah. Mit einem Geleitwort von Inamullah Khan, Generalsekretär des Islamischen Weltkonkgresses. Gütersloh, 2. durchgesehene Auflage 1992)
Da arabisch zu Zeit der Abfassung des Korans noch keine etablierte Schriftsprache war, gibt es bei der Übersetzung die angeführten Zweideutigkeiten. Die Interpretation der Schleierverfechter ist, daß die Bedeutung "Reize" und das Herunterziehen so auszulegen sei, daß sich die Frauen generell zu verhüllen hätten, um sich so vor "Belästigungen" zu schützen.
Setzt man aber das Wort "Schmuck", also die primäre Bedeutung ein, so ergibt sich ein viel praktischerer Sinn: In vielen arabischen, afrikanischen und asiatischen Ländern ist es vielfach Brauch, die Mitgift und das gesamte Familienvermögen als Goldschmuck anzulegen. Der Verlust dieser Wertanlage würde für viele Familien den Ruin bedeuten.
Daher der praktische Hinweis, Fremden den Schmuck nicht offen zu zeigen! So wird auch der Hinweis, daß die Frauen auch Ihre Füße nicht aneinanderschlagen sollen ("Sie sollen ihre Füße nicht aneinanderschlagen, damit man gewahr wird, was für einen Schmuck sie verborgen tragen."), auf einmal sonnenklar - durch das Rasseln der wertvollen Fußketten wird das Tragen des Schmuckes verraten. Setzt man hier "Reize" ein, kann man diese Passage nicht mehr verstehen.
So geht es natürlich auch nicht um eine sexuelle Belästigung. Es wäre ja auch schwer nachzuvollziehen, daß auch alte, verheiratete Frauen ihre (nicht mehr vorhandenen Reize) verstecken sollten, sie werden ja in wohl kaum Subjekte sexueller Belästigung werden. Nein, die Bedrohung ist ganz einfach und ganz praktisch die Bedrohung durch einen Raubüberfall, mit dem Verlust des Schmuckes würde die ganze Familie zu Grunde gerichtet werden.
Doch das Bundesverfassungsgericht geht in seinem Urteil nicht auf diese Hintergründe des Schleier-tragens ein. Als ausdrückliche Begründung wird das persönliche, subjektive Empfinden der Trägerin angeführt. Damit verliert letztlich das Gebot der Religionsfreiheit im Grundgesetz seine Verbindlichkeit. Im Grundgesetz geht es doch wohl um die Religionsfreiheit, also um die Freiheit eine Religion auszuüben, nicht um die Freiheit seinen subjektiven religiösen Gefühlen auf Kosten der Allgemeinheit freien Lauf zu lassen.
Eine individuelle Gesinnungsforschung (was bewegt denn den Einzelnen letztlich zu seinem Verhalten, ist es wirklich eine religiöse Überzeugung oder vielmehr der Wille ein extremistisches politisches Statement abzugeben?) müßte doch offensichtlich die Prinzipien unseres Rechtsstaates ad absurdum führen, daher muß sich auch ein Richter an die Prinzipien der Transparenz und Nachvollziehbarkeit halten.
Konsequent verfolgt bedeuten beide Urteile, daß wir uns in immer stärker werdendem Maße auf eine Invidualisierung und Subjektivierung der Gesellschaft einstellen müssen. So wird die alte Weisheit aus vordemokratischer Zeit auch in Deutschland wieder aktuell: "Auf hoher See und vor Gericht ist man allein in Gottes Hand."
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