Justiz:
Landgericht Darmstadt hebt Verurteilung wegen Verletzung der Fürsorge
auf – Schlechte Noten als gute verkauft – Über 40 Autos aufgebrochen Dieser Fall erinnert sehr an die Vorgänge um den bekannten Straftäter Mehmet alias Muris Ari, der über Jahre hinweg die deutsche Justiz beschäftigte und dem zuletzt auf Weisung der Justiz ein Aufenthaltsrecht wieder zugestanden werden musste. Muris Ari war zuletzt Anfang 2005 wiederum straffällig geworden. (Mehr hier)
Am 7. September 2004 wurde am Rüsselsheimer Amtsgericht ein heute 62
Jahre alter Marokkaner zu vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.
Die Begründung: Er habe seine Fürsorgepflicht gegenüber seinem Sohn
verletzt. Dieses Urteil wurde nun aufgehoben, das Verfahren wurde in
der Berufung am Donnerstag vor dem Darmstädter Landgericht eingestellt.
Doch diese Verhandlung offenbarte wieder einmal die Schwierigkeit eines
familiären Zusammenlebens in der Fremde.
Im Oktober 2001 holte der
Angeklagte seinen Sohn aus erster Ehe aus Marokko nach Deutschland.
Gemeinsam lebten sie in Rüsselsheim, der damals 14 Jahre alte Sohn
lernte schnell Deutsch und besuchte die Schule. Anfangs noch ohne
Probleme, doch die ließen nicht lange auf sich warten. Sein Vater sah
sich immer samstags auf Flohmärkten um, um dort Sachen aufzutreiben,
die er wieder verkaufen wollte. Das tat er nicht nur in Rüsselsheim,
sondern auch in Marokko. Irgendwann zwischen Sommer 2002 und April 2003
weilte der Vater zweieinhalb Monate dort – wann genau, ließ sich nicht
mehr klären. Jedenfalls war das Rüsselsheimer Gericht der Auffassung
gewesen, in dieser Zeit sei der Sohn verwahrlost und heruntergekommen,
weil er keine Betreuung gehabt habe.
„Ich war zwar in Marokko,
habe aber meinen Sohn in die Obhut meines Bruders gegeben“, sagte der
Angeklagte, der auch nach 32 Jahren in Deutschland die Sprache kaum
beherrscht und Analphabet ist. Doch auch seinem Bruder war nicht
aufgefallen, dass die schulischen Leistungen immer schlechter wurden
und die Polizei mehrfach vor der Tür stand. Über 40 Autos hat der Junge
nach deren Angaben bis April 2003 aufgebrochen, hinzu kamen
Kellereinbrüche. Dafür wurde er vor dem Groß-Gerauer Jugendgericht
verurteilt, heute lebt er in einem Jugendheim bei Fulda.
Für den Vorsitzenden
Richter in Darmstadt war es völlig unverständlich, wie diese
Entwicklung unbeobachtet von seinen Erziehungsberechtigten geschehen
konnte. Schließlich habe bereits im November 2002 das Jugendamt den
Vater kontaktiert. In der Schule hatte es Probleme gegeben, der Junge
war immer gewalttätiger geworden, die Leistungen waren miserabel. „Mir
wurde stets gesagt, dass mein Sohn gut in der Schule ist. Dass es
Probleme mit der Polizei gab, habe ich erst erfahren, als er verurteilt
wurde“, sagte der Vater.
Wie aber kann es sein,
dass sowohl Vater als auch Onkel die Verwahrlosung des Jungen nicht
mitbekamen? Schließlich sprach auch das Schulzeugnis im Winter 2002
eine deutliche Sprache. Fünfer und Sechser waren die Regel – trotzdem
dachte der Vater, sein Junge sei ein vorbildlicher Schüler. „Er hat mir
das Zeugnis erklärt, und dann habe ich unterschrieben.“ Offensichtlich
verkaufte ihm sein Sohn, der gut deutsch spricht, die miesen Noten als
gute. Und auch der Onkel sah keine Probleme.
Erst als die Jugendstrafe
verhängt wurde, sahen die beiden klar. „Ganz offensichtlich wurden sie
von ihm getäuscht“, begründete der Richter am Donnerstag die
Einstellung des Verfahrens. Zwar gebe es Methoden, wie man einen auf
die schiefe Bahn gekommenen Sohn wieder auf den Pfad der Tugend bringen
könne – vor allem mehr Kontrolle –, aber gegen alles sei man nicht
gefeit. Vor allem dann nicht, wenn der Nachwuchs sprachlich deutlich
überlegen sei: „Wir müssen davon ausgehen, dass Sie an der Nase
herumgeführt wurden.“ Die Verteidigerin bezeichnete den Vater als
„völlig überfordert“ und plädierte für die Einstellung. Die
Staatsanwaltschaft folgte diesem Antrag.
Die Einstellung begründete
sich aber vor allem damit, dass Vater und Onkel glaubhaft schilderten,
dass der Junge niemals über Monate alleine in der Wohnung lebte. Einer
von beiden war stets da, auch, wenn die Kontrolle mangelhaft war und
der Heranwachsende immer öfter auswärts bei Freunden übernachtete.
„Dass er aber zweieinhalb Monate ohne Obhut war, können wir wohl
ausschließen“, kommentierte der Vorsitzende Richter. Und damit hatte
sich schließlich das Rüsselsheimer Urteil begründet.
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