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Ja zu Europa - Nein zur EU Verfassung
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Geschrieben von Tobias Heinz   
Wednesday, 01 June 2005
Nein zur EU Verfassung!

"Ihr werdet uns noch einmal dankbar sein!" Dieser nur allzuoft verwendete Satz trifft auch auf die Abstimmung über die EU Verfassung in Frankreich zu - und dieses Mal entspricht er sogar der Wahrheit. Nichts weniger bedeutendes hat stattgefunden, als daß die Nation der Wiege der Demokratie, in der Demokratie und Menschrechte geboren wurden, den Eurokraten ein kleines Steinchen in den Weg gelegt haben. Ein kleines Hindernis auf der Schnellstraße vom Europa der Bürger zum Europa der überbordenden Bürokratie.

Was ist dieser Verfassungsvertrag? Zunächst einmal umfasst die sog. EU-Verfassung 485 eng bedruckte DIN A4 Seiten mit 448 Artikeln und 36 mit Verfassungsrang versehenen angehängten Protokollen und Verträgen. Gegenüber den ca. 20 Seiten des deutschen Grundgesetzes und seinen 146 meist drei bis fünfzeiligen Artikeln handelt es sich rein umfänglich bei der EU Verfassung um ein Monster. Beim näheren Hinsehen zeigt sich, daß die EU-Verfassung nicht nur vom Umfange her ein Monster ist, sondern daß auch der Inhalt eine monströse Verzerrung jeder demokratischen Idee darstellt.

Natürlich ist die Hürde, ein solches 485-seitiges Werk (der erste Satz besteht aus 790 Wörtern) zu lesen relativ hoch und es liegt die Vermutung nahe, daß die wirklich bitteren Pillen, wie bei bürokratischen "Coups" meistens, gut zwischen seitenlangem, unverbindlichen Schönreden versteckt wird. Doch sollte man sich diese Zeit nehmen, denn in der Vergangenheit wurde das Konstrukt "EU" schon öfter dazu genutzt, die Parlamente und Verfassungsgerichte der einzelnen Staaten zu umgehen. So wurden von den Bürgern bzw. Ihren direkt gewählten Abgeordneten abgelehnte Projekte der Regierungen über "Europäische Richtlinien" verpflichtend geregelt, bei solchen Richtlinien können die Parlamente und Gerichte nicht mehr ablehnen. Das ist schon oft passiert: so geschehen beim "Patentschutz für Software", dem Urheberrecht, der "Terror"-Bekämpfung und der Vorratsdatenspeicherung, wo jeweils die Regierungen gegen (zum Teil einstimmige) Beschlüsse ihrer Parlamente eine EU Richtlinie verabschiedeten, die dann auf diesem Umwege in nationales Recht umgesetzt werden mussten - ohne daß sich die Parlamente dort noch dagegen wehren konnten.

Da ist es auch nur ein geringer Trost, daß man immer wieder hört, daß die Verfassung in einigen dieser Bereicht gegenüber den gegenwärtigen Vertägen ein bischen mehr Demokratie einführe. Tatsächlich ist dieses Quentchen "Mehr" (Pflicht die nationalen Parlamente frühzeitig zu informieren, Beratungs- und Initiativrechte des europäischen Parlamentes) aber nur ein schwach wirkendes Placebo für die ewige Festschreibung eines eklatanten Demokratiedefizits in einer Europäischen Verfassung.

Die Organe und die Verteilung der Macht

Die Organe der EU

In der EU gibt es die folgenden Insititutionen:

  • das Europäische Parlament,
  • den Europäischen Rat,
  • den Ministerrat,
  • die Europäische Kommission,
  • den Gerichtshof der Europäischen Union.

Die Machtverteilung in der EU Verfassung ist gut in der Mitte des Werkes versteckt - ab Seite 156 folgt eine Machtverteilung, die mit ihren pseudodemokratischen Institutionen und Rechteregelung in einer südamerikanischen Bananenrepublik nicht anders gestaltet sein würde - Merke: Demokratie ist nicht, wenn man wählen darf, sondern wenn die, die man wählt auch tatsächlich etwas beeinflussen können. Mit wichtigen demokratischen Prinzipien wird gebrochen. In jeder Demokratie ist es gute Praxis, daß diejenigen Organe, die direkt vom Volke gewählt worden sind, mehr Macht haben, als diejenigen, die nur indirekt oder garnicht direkt gewählt wurden. So hat z. B. ein direkt vom Volke gewählter Präsident in der Regel mehr Exekutivgewalt, als ein repräsentativ gewählter oder ernannter.

Das Europäische Parlament

In der Europäischen Verfassung ist dies anders - das demokratische Grundprinzip wird durchbrochen. Die einzige direkt gewählte Institution, das europäische Parlament führt weiter ein fast einflussloses Schattendasein. Zwar erinnert die Definition des Parlamentes in Artikel I-20 an die gewohnten demokratischen Parlamente:

Das Europäische Parlament wird gemeinsam mit dem Rat als Gesetzgeber tätig und übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus. Es erfüllt Aufgaben der politischen Kontrolle und Beratungsfunktionen nach Maßgabe der Verfassung. Es wählt den Präsidenten der Kommission.

Darin geschickt getarnt ist die Einschränkung: nur gemeinsam mit Rat kann es als Gesetzgeber wirken und nur gemeinsam kann es Haushaltsbefugnisse ausüben, das ist in keiner Verfassung so, denn die Regierung darf Gesetze vorlegen und Gesetze umsetzen, Gesetze zu geben muß das Recht des Parlamentes sein. In den konkreten Kompetenzen finden sich immer noch weitergehende Einschränkungen in Formulierungen wie in Artikel III-332:

Das Europäische Parlament kann mit der Mehrheit seiner Mitglieder die Kommission auffordern, geeignete Vorschläge zu Fragen vorzulegen, die nach seiner Auffassung die Ausarbeitung eines Rechtsakts der Union zur Anwendung der Verfassung erfordern. Legt die Kommission keinen Vorschlag vor, so teilt sie dem Europäischen Parlament die Gründe dafür mit.

Das heißt also, daß das Parlament mit Mehrheit mal höflich fragen darf, was die Komission so vor hat, aber die Kommission muß darauf nicht antworten, sondern nur die Gründe mitteilen, warum sie dem Palament nichts vorlegt.

Ein Satz wiederholt sich in vielen Artikeln über die Rechtes des demokratisch gewählten Parlamentes, der einzigen durch die Bürger gewählten Institution:

Das Europäische Parlament beschließt aus eigener Initiative nach Zustimmung des Rates und der Kommission.

Was im Klartext bedeutet, daß das Parlament nichts ohne die Zustimmung des Rates und der Kommission beschließen kann. Diese Missachtung des in Wahlen zum Ausdruck gebrachten Willen der europäischen Bevölkerung setzt sich in den weiteren Institutionen fort:

Artikel III - 341
Der Präsident des Europäischen Parlaments kann vom Europäischen Rat gehört werden.

Sofern es dem Rat beliebt, kann er auch mal den Parlamentspräsidenten einladen und hören, was der so zu sagen hat, er kann es aber auch sein lassen oder das was der Parlamentspräsident sagt, kann einfach in den Wind geschrieben werden, denn verbindlich ist es nicht.

Der Europäische Rat

Er wird aus den Staats- und Regierungschefs gebildet, die sich durch Minister aus der jeweiligen Regierung vertreten lassen können. Hier liegt die "Richtlinienkompetenz", wie es in Artikel I-21 heißt: Der Europäische Rat gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest. Hier werden also die "Ziele" festgelegt, für die die "Ermächtigungsklausel", die weiter unten diskutierte Flexibilitätsklausel, verwendet werden kann.

Der Rat wirkt selbst nicht gesetzgeberisch, tritt nur einmal pro Vierteljahr zusammen. Seine Kompetenzen sind in der Verfassung nicht genau definiert - der Ministerrat muß sich aber nach den formulierten "politischen Zielvorstellungen" richten.

Es scheint, daß der "Europäische Rat" ein Gremium ist, das in die Verfassung eingeführt wurde, um den Anschein zu erwecken, daß die Macht über ein System von Institutionen ausbalanciert wurde. Da de facto aber die Zusammensetzung des Europäischen Rates und des Ministerrates weitgehend identisch ist, kann eine effektive Kontrolle nicht stattfinden. Die Macht wird in der Exekutive gebündelt, ohne daß es eine Kontrollmöglichkeit gibt.

Der Ministerrat

Die Zusammensetzung ist mit der des Europäischen Rates weitgehend identisch: Der Rat besteht aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene, der befugt ist, für die Regierung des von ihm vertretenen Mitgliedstaats verbindlich zu handeln und das Stimmrecht auszuüben. Das ist zwar etwas anderes formuliert, läuft de facto aber auf das selbe hinaus wie im "Europäischen Rat", denn da sind ebenfalls Staats- und Regierungschefs bzw. Minister als deren Vertreter repräsentiert.

Der Ministerrat ist eine merkwürdige Mischung aus Legislative und Exekutive, denn die entsandten Vertreter sind ja allesamt Repräsentanten der Exekutive der jeweiligen Staaten, ihre Befugnisse in Europa sind aber gesetzgeberische (als Legislative): Der Rat wird gemeinsam mit dem Europäischen Parlament als Gesetzgeber tätig und übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus. Zu seinen Aufgaben gehört die Festlegung der Politik und die Koordinierung nach Maßgabe der Verfassung.

Hier ermächtigt sich also die Exekutive weitgehend zur Gesetzgebung. Da die Rechte des Parlamentes so schwach ausgeprägt sind, drängt sich der Verdacht auf, daß hier die Parlamente der einzelnen Staate umgangen werden sollen (wie schon geschehen). Eine echte Mitwirkung oder Kontrolle existiert weder durch die Parlamente der einzelnen Staaten, noch durch das europäische Parlament. Der Bürger hat als letzte und einzige Möglichkeit des Einflusses die Abwahl der Regierung seines jeweiligen Landes - alle vier Jahre.

Die Europäische Kommission

Schon wieder eine Exekutive - also eine Insitution, die die eigentliche Macht ausübt. Die Kommission ist die Regierung der EU. Während die Richtlinien von den Regierungschefs vertreten im Europäischen Rat bestimmt werden und die Gesetze durch die Regierungen im EU-Ministerrat verabschiedet werden, führt die Kommission als Regierung die Regierungsgeschäfte: Sie führt den Haushaltsplan aus. [...] Sie übt nach Maßgabe der Verfassung Koordinierungs-, Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen aus. Auch die Kommission wird wiederrum durch die nationalen Regierungen eingesetzt - das Palament hat kein Vorschlagsrecht und kann nur den Präsidenten der Kommission bestätigen oder ablehnen. Auch dann hat das Parlament kein Recht einen alternativen Kandidaten vorzuschlagen - es wird ein erneuter Vorschlag durch die Regierungen der EU-Staaten gemacht - dies kann dann auch wieder dieselbe Person sein. Unter Umständen, bis der zuvor abgelehnte Kandidat dann schlussendlich doch die Zustimmung des Parlamentes findet.

Doch ist auch dieser durch die Regierungen eingesetzten Regierung der EU zusätzlich noch Gesetzgebungsmacht eingeräumt. So heißt es in Artikel I-26:

Soweit in der Verfassung nichts anderes festgelegt ist, darf ein Gesetzgebungsakt der Union nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden. Andere Rechtsakte werden auf der Grundlage eines Kommissionsvorschlags erlassen, wenn dies in der Verfassung vorgesehen ist.

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Einer effektiven Kontrolle der Komission durch das demokratisch gewählte Parlament wird in der Verfassung vorgebeugt. Der Kommssion kann nämlich nur geschlossen bestätigt oder geschlossen und komplett das Misstrauen ausgesprochen werden. Selbst (wie in der Vergangenheit geschehen) bei allerschwersten Verfehlungen eines Kommissionsmitgliedes muß der gesamten Kommission und dem europäischen Außenminister das Misstrauen ausgesprochen werden. Aber selbst wenn dies geschieht, kann die Kommission vorübergehend als geschäftsführend im Amt bleiben, denn für die Ernennung einer neuen Kommission gibt es keine zeitlichen Vorgaben.

Die Ermächtigungsklausel

Eine Zeitbombe als echter Anschlag auf die demokratischen Verfassungen der einzelnen Länder der EU wurde in Artikel I-18 die Flexibilitätsklausel eingefügt. Sie ermächtigt den Ministerrat zu "geeigneten Maßnahmen", die auch über die in der Verfassung explizit vorgesehenen Maßnahmen hinausgehen:

(1) Erscheint ein Tätigwerden der Union im Rahmen der in Teil III festgelegten Politikbereiche erforderlich, um eines der Ziele der Verfassung zu verwirklichen, und sind in dieser Verfassung die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen, so erlässt der Ministerrat einstimmig auf Vorschlag der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die geeigneten Maßnahmen.

Der Aufbau des Verfassungsvertrages

Auffällig ist, daß als erster Politikbereich in der Verfassung der Binnenmarkt geregelt wird. Zusammen mit dem zweiten Politikbereich Wirtschafts- und Währungspolitik nehmen die Regeln zur Wirtschaft 38 Seiten ein. Alles andere wird in Kapitel 3 unter "die Politik in anderen Bereichen" zusammengefasst. Zusammen weniger als 20 Seiten, Beschäftigung 2 Seiten, Sozialpolitik 3 Seiten, Umwelt 2 Seiten, Verbraucherschutz 0,5 Seiten.

Auch bei der Lektüre des Textes wird deutlich, daß der Wirtschaft sehr viel mehr Sorgfalt und sehr viel weiterreichende Rechte und Freiheiten verbrieft werden sollen, als allem anderen. Alle Warnsignale sollten mit maximaler Lautstärke bei Artikel III-171 läuten:

Artikel III-171
Durch Europäisches Gesetz oder Rahmengesetz des Rates werden Maßnahmen zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern, die Verbrauchsabgaben und sonstige indirekte Steuern festgelegt, soweit diese Harmonisierung für die Verwirklichung oder das Funktionieren des Binnenmarkts und die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen notwendig ist. Der Rat beschließt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses.

Das heißt, der Rat kann hier einheitlich in der EU geltende Steuern erlassen, die Parlamente sind daran nicht mehr beteiligt, sie werden nur noch angehört. Auch der Wirtschafts- und Sozialausschuß wird nur noch angehört. Der Rat hat dadurch die faktische Macht zur Einführung oder Abschaffung von Umsatzsteuern, Verbrauchsabgaben und indirekten Steuern (z. B. in Deutschland: Mehrwertsteuer).

Wirtschafts- und Währungspolitik

Wie schon beschrieben nimmt die Wirtschafts- und Währungspolitik einen großen und übermächtigen Teil des Verfassungstextes ein. Die Einleitung in Artikel III-177 beschreibt die Zielsetzung so:

Die Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Union im Sinne des Artikels I-3 umfasst nach Maßgabe der Verfassung die Einführung einer Wirtschaftspolitik, die auf einer engen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, dem Binnenmarkt und der Festlegung gemeinsamer Ziele beruht und dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist. [...] Diese Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Union setzt die Einhaltung der folgenden richtungweisenden Grundsätze voraus: stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz.

Diese Rahmenbedingungen und Ziele werden in Artikel III-179 Absatz 2 definiert und auf diese Ziele wird mehrfach verwiesen. Sie sind im wesentlichen:

  • Preisstabilität
  • offene Marktwirtschaft
  • freier Wettbewerb
  • einheitliche Geld- und Wechselkurspolitik

Bei Verstoß gegen diese Grundsätze ist in der Verfassung vorgesehen, dem entsprechenden Mitglied eine Verwarnung (Artikel III-179 Absatz 4) auszusprechen (Sanktionen gibt es keine), allerdings nur, wenn eine Mehrheit von 55% mit 65% der Bevölkerung erreicht wird. Auch in den weiteren Artikeln werden keinerlei wirksame Kontroll- oder Sanktionsmaßnahmen beschrieben. Das schärfste aber natürlich stumpfe Mittel bleibt die Veröffentlichung der Verstöße. Einzig bei übermäßigen Defiziten erfolgt nach Festellung in Schritt 1, Maßnahmenempfehlungen in Schritt 2, Feststellung der Nichtumsetzung in Schritt 3, Beschluß der Veröffentlichung der Verstöße in Schritt4 noch ein 5. Schritt: Sanktionen, die bis zu eine "Geldbuße in angemessener Höhe" reichen könnten (von Maastricht wissen wir, daß es dazu niemals kommen wird).

Hier bleibt die EU Verfassung wesentlich hinter den Maßnahmen und Vorschriften des Maastricht-Vertrages zurück - wohl auch, weil die aktuellen Regierungen mit diesen richtigen und wichtigen Regeln nicht zurecht kommen.

Beschäftigungs- und Sozialpolitik

Erstaunlich oft findet sich auf den wenigen Seiten zu Beschäftigungs- und Sozialpolitik die folgende Phrase:

Zu diesem Zweck tragen die Union und die Mitgliedstaaten bei ihrer Tätigkeit der Vielfalt der einzelstaatlichen Gepflogenheiten [...] Rechnung.

Eine einheitliche Beschäftigungs- und Sozialpolitik steht also, anders als die Wirtschafts- und Industrieförderung, unter dem Vorbehalt der "einzelstaatlichen Gepflogenheiten". Bedeutet das, daß in einem Staat, in dem ein Arbeiter schon immer Hunger litt, auch in Zukunft Hunger leiden soll, weil das nun einmal eine solche Gepflogenheit ist? Ironie beiseite: geradezu naiv, eher vielleicht schon Augenwischerei ist es, den Binnenmarkt als automatisches Mittel zur Herbeiführung einer angemessenen und gerechten Sozialordnung anzusehen, so steht in Artikel III-209 unter Sozialpolitik:

[Die Mitgliedstaaten] sind der Auffassung, daß sich eine solche Entwicklung [...] aus dem eine Abstimmung der Sozialordnungen begünstigenden Wirken des Binnenmarktes [...] ergeben wird.

Alle anderen Maßnahmen der Sozialpolitik sind dann laut Artikel III-210 nur noch als Unterstützung dieses Automatismus notwendig und entsprechend wenig ausgeführt. Das Recht des Europäischen Parlamentes beschränkt sich wieder einmal auf (Aritkel III-218):

Das Europäische Parlament kann die Kommission auffordern, Berichte über besondere, die soziale Lage betreffende Fragen auszuarbeiten.

Natürlich finden sich auch im wesentlichen unverbindliche Erklärungen über eine gemeinsame Entwicklung, Sozialpartnerschaft und die Förderung von Entwicklung und Beschäftigung - das alles bleibt aber weit hinter dem zurück, was es in jedem EU Staat schon längst an gesetzlichen oder verfassungsmäßigen Regelungen gibt.

Agrarpolitik

Der Bereich "Agrarpolitik" hat in der EU die längste Tradition. Entsprechend konkret sind auch die Regelungen zur Agrarpolitik ausgefallen. Die Verfassung schreibt hier im wesentlichen die Maßnahmen der vergangenen Jahrzehnte fort. Wie es nach der Verabschiedung der Verfassung zu einer "Agrarwende", d. h. zu einer umfassenden Neuordnung des landwirtschaftlichen Sektors kommen soll, ist mir nicht klar. Für mich liest sich in diesem Punkt die Verfassung eher wie eine Bilanz von 30 Jahren EU-Agrarpolitik (mit Milchseen, Butterbergen und leergefischten Meeren im Hinterkopf), als ein Fundament für nachhaltiges Wirtschaften in der Zukunft.

Umweltpolitik

Wie schon bei der Sozial- und Beschäftigungspolitik steht auch die Umweltpolitik unter einem Vorbehalt in Artikel III-233:

Bei der Erarbeitung ihrer Umweltpolitik berücksichtigt die Union die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Union insgesamt sowie die ausgewogene Entwicklung ihrer Regionen.

Damit steht die Umweltpolitik, trotz der vielen vorausgegangenen Zeilen zu Nachhaltigkeit, umsichtiger Verwendung natürlicher Ressourcen, wiederum unter dem Primat der wirtschaftlichen Entwicklung. Während im Bereich der Wirtschaftsförderung und der Agrarpolitik die Finanzierung gemeinschaftlich erfolgt, ist dies bei der Umweltpolitik anders, Artikel III-234 regelt:

Unbeschadet bestimmter Maßnahmen der Union tragen die Mitgliedstaaten für die Finanzierung und Durchführung der Umweltpolitik Sorge.

Wettbewerbsfähigkeit und Strukturwandel der Industrie mit Verfassungsrang

Anders sieht dies bei der Wirtschaft aus. Während z. B. das Grundgesetz noch davon spricht, daß "Eigentum verpflichtet", wird in der EU Verfassung die Verpflichtung des Staates zur Unterstützung und Förderung der Wirtschaft festgeschrieben. Der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie wird mit der EU-Verfassung eine hohe Priorität eingeräumt. Die Unterstützung des Strukturwandels und der Förderung eines "günstigen Umfeldes" für Unternehmen wird Verfassungsrang eingeräumt:

Artikel III-279
Die Union und die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die notwendigen Voraussetzungen für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie der Union gewährleistet sind.
Zu diesem Zweck zielt ihre Tätigkeit entsprechend einem System offener und wettbewerbsorientierter Märkte auf Folgendes ab:
a) Beschleunigung der Anpassung der Industrie an die strukturellen Veränderungen;
b) Förderung eines günstigen Umfelds für die Initiative und Weiterentwicklung der Unternehmen, insbesondere der kleinen und mittleren Unternehmen, in der gesamten Union;
c) Förderung eines günstigen Umfelds für die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen;
d) Förderung einer besseren Nutzung des industriellen Potenzials der Politik in den Bereichen Innovation, Forschung und technologische Entwicklung.

Fazit

Die Diskussion heute läuft in die falsche Richtung. Die Diskussion revolviert um Fleischer oder Fliesenleger, eine Diskussion, die zum einen kaum etwas mit der vorgelegten Verfassung zu tun hat und zum anderen wahrscheinlich schon in wenigen Monaten vergessen sein wird. Doch beeinflusst diese Diskussion die Haltung der Bürger zum EU Verfassungsvertrag. Stattdessen sollte das strukturelle Demokratiedefizit thematisiert werden, denn wenn es jetzt eine Lösung für das "Fleicher- und Fliesenlegerproblem" geben wird, so bliebe die Machtverteilung und das Ungleichgewicht der Institutionen für immer bestehen. Das nächste Problem, das den Bürgern in einem, zwei oder fünf Jahren unter den Nägeln brennen wird, kann dann schon ohne Beteiligung der Bürger und ohne Beteiligung der nationalen Parlamente und des EU Parlamentes ganz anders ausgehen.

Letzte Aktualisierung ( Friday, 10 June 2005 )
 
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