Europa
cantat – mehrere tausend Sängerinnen und Sänger
hatten sich vom 29. Juli bis 6. August 2006 in Mainz versammelt. In
Kirchen und Sälen stellten Chöre aus ganz Europa ihre
Sangeskunst und ihre Freude am Gesang vor. Wer von europäischer
Identität spricht, kommt an der europäischen Musik, an der
europäischen Kunst und damit an der europäischen
Kreativität nicht vorbei. Aber er kommt auch nicht am
europäischen Denken und Forschen vorbei. Das alles gesammelt und
gespeichert im “kollektiven kulturellen Gedächtnis”
Europas und von Generation zu Generation weiter gegeben durch
Erziehung und Bildung. Was im Einzelnen aus dem “kollektiven
kulturellen Gedächtnis” an die neue Generation durch
Erziehung und Bildung weiter gegeben werden muss, damit die Identität
erhalten bleibt, ist nicht leicht zu sagen. Aber wer Identität
bewahren und zugleich die Zukunft nicht verlieren will, gleicht wohl
“einem Hausvater, der aus seinem Schatz Neues und Altes
hervorholt” Mt. 13.52.
Die
Begriffe “Bildung” und “europäische Identität”
verweisen zunächst auf eine Grundbedingung der menschlichen
Existenz hin: Jeder Mensch ist ein Einzel-, aber zugleich ein
Sozialwesen.
Bildung
1: “ Mensch, werde, der du bist!” Betrachten wir
die Bildung als einen Prozess, in dem der einzelne Mensch gebildet
wird und sich selbst bildet, dann gilt der Satz: “ Mensch,
werde, der du bist!” Bildung ist in diesem Sinne eine
Ent-wicklung, eine Ent-faltung dessen, was der Mensch immer schon
ist, was ihm vorgegeben ist, was er vom Schöpfer geschenkt
bekommen hat. Heute würde man sagen, was in seinen Genen
angelegt ist. Die erste Bildungsaufgabe eines jeden Menschen ist
somit, sich selbst anzunehmen, im Sinne von Romano Guardinis immer
noch lesenswertem Essay “Die Annahme seiner selbst”
(Würzburg 1960). Jeder Mensch muss zunächst seine
Begabungen und seine Grenzen erkennen und anerkennen, um der Mensch
zu werden, der möglich ist. Kein Mensch beginnt sein Leben als
“tabula rasa”, die dann beschrieben wird, oder als leerer
Sack, in den dann möglichst viel hinein gefüllt wird. So
gesehen ist es die erste Aufgabe aller Erziehungs- und
Bildungseinrichtungen von der Familie angefangen bis zur Hochschule,
dem jungen Menschen zu helfen, sich selbst anzunehmen, um seine
Begabungen zu entdecken und zu auszuformen. Auch sich selbst
anzunehmen, ist ein sozialer Prozess. Wenn das Kind nicht erlebt und
erfährt, dass andere Menschen Ja zu ihm sagen, dass es
angenommen und geliebt ist, wird es ihm schwer fallen, sich selbst
anzunehmen.
Bildung
2: “Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es
zu besitzen.”
Betrachten
wir zweitens die Bildung als einen Prozess, in dem Menschen zu einem
Leben in einer bestimmten Gesellschaft, hier zur Teilnahme an
der europäischen Identität befähigt werden, dann geht
es um den Erwerb von Inhalten und Fähigkeiten. Um bei dem Bild
von der “leeren Tafel” zu bleiben, ist die Bildung auch
ein “Beschreiben” und ein “Auffüllen”.
Wenigstens diese Seite der Bildung kann als Teilhabe am ‚Kulturellen
Gedächtnis’ einer Gesellschaft beschrieben werden. Der mit
der Fähigkeit zu sprechen begabte Mensch z. B. lernt sprechen
und zugleich nimmt die Sprache der Eltern als seine Muttersprache in
sich auf. Mit der Muttersprache aber nimmt er eine Fülle von
“Selbstverständlichkeiten” auf, die das Leben
regeln, entlasten und für Mitmenschen berechenbar machen.
Wahrscheinlich ist die plausibelste Definition von Identität:
Identität ist die Summe der Selbstverständlichkeiten.
Deshalb ist auch so schwer abzugrenzen, was zur Identität dazu
gehört und was nicht. Sicher gehören die “großen
Geschichten” Europas dazu. Aleida Assmann unterscheidet in
ihrem Vortrag “Das kulturelle Gedächtnis an der
Milleniumsschwelle” UVK 2004 “ zwei Dimensionen des
kulturellen Gedächtnisses: ein ´Speichergedächtnis´
und ein ´Funktionsgedächtnis´. Während das
Speichergedächtnis aufhebt, wählt das Funktionsgedächtnis
aus. Durch Erziehung und Bildung mit ihren Kanonisierungen eignen
sich die nachwachsenden Generationen an, was ihnen wert- und
bedeutungsvoll zu sein scheint. Dabei wirkt die Frage: Was ist zu
unserem gemeinsamen und zu meinem persönlichen Leben von
Bedeutung? wie ein Filter.
Bildung
ist wesentlich ein soziales Geschehen. Umgekehrt kann man auch sagen,
dass alles, was zum sozialen Leben befähigt, zur Bildung gehört:
Das Geben und Nehmen, Konflikte Austragen, Kämpfen und Versöhnen
usw., und es gehört zur Bildung, alle diese sozialen Phänomene
in einer in der Kultur akzeptierten Form zu tun. In der europäischen
Kultur etwa wird in diesem Zusammenhang die Fairness beachtet,
während in anderen Kulturen eher die Schlauheit bewundert wird.
Ob
es, wenn man von europäischer Identität spricht, vor allem
um die sog. Bildungsgüter geht, ist fraglich. 1903 formulierte
Paulsen: „Wenn ich mein Sprachgefühl ganz gewissenhaft
erforsche, so finde ich dieses: gebildet ist, wer nicht mit der Hand
arbeitet, sich richtig anzuziehen und zu benehmen weiß, und von
allen Dingen, von denen in der Gesellschaft die Rede ist, mitreden
kann. Ein Zeichen von Bildung ist auch der Gebrauch von Fremdwörtern,
das heißt der richtige: wer in der Bedeutung oder der
Aussprache fehlgreift, der erweckt gegen seine Bildung ein
ungünstiges Vorurteil. Dagegen ist die Bildung so gut wie
bewiesen, wenn er fremde Sprachen kann ....“vgl. Wikepedia,
Bildung. Wer also mit der Hand arbeitet, der Handwerker und
Arbeiter, gehört nicht zu den Gebildeten. Der Gebildete
beschäftigt sich mit geistigen Dingen, mit Reden, Schreiben und
Denken, mit Rechnen, besser mit Mathematik. Ob Paulsen Mozart und
Rembrandt zu den Gebildeten gezählt hat, ist wohl zu bezweifeln,
auch ob Paulsens Sprachgefühl noch in die demokratischen und
eher egalitären Gesellschaften Europas passt, ist
unwahrscheinlich.
Paulsen
hat wohl Recht, wenn er feststellt, dass der Gebildete von allen
Dingen, von denen in der Gesellschaft die Rede ist, mitreden kann.
Aber das Mitreden z. B. über die Fragen der Genforschung dürfte
auch Paulsens Gebildeten nur begrenzt möglich sein. Über
viele Jahrhunderte hatte sich der europäische Bildungskanon aus
den sieben freien Künsten gebildet. Ein Kanon von Kenntnissen,
verbunden mit der lingua franca Latein, verschaffte den europäischen
Menschen lange Zeit eine große Freizügigkeit und den
Austausch des Wissens. Während die “fahrenden Scholaren
von Universitätsstadt zu Universitätsstadt zogen, oft
angezogen von berühmten Lehrern der Zeit, sammelte der
Handwerker als “fahrender Geselle” Erfahrungen bei
fremden Meistern, um selbst Meister zu werden. Ob das Surfen im
Internet die Bedeutung des Fahrens der Scholaren und Gesellen
erreicht, ist zumindest bei den Gesellen zu bezweifeln.
Mit
der Reformation kam der Gedanke, den (all)gemeinen Schichten Zugang
zur “Bildung” zu verschaffen, in den Blick. Jeder
Christenmensch sollte die Hl. Schrift lesen können und möglichst
auch schreiben lernen. Als Erster formulierte Comenius den Begriff
der Allgemeinbildung mit der Vorstellung, “allen alles zu
lehren”.
Die
Aufklärung, vor allem Kant, prägte die Vorstellung vom
Menschen, der der Vernunft teilhaftig ist und den es gelte, aus der
“selbstverschuldeten Unmündigkeit” herauszuführen.
Emanzipatorische und demokratische Forderungen, aber auch die
Notwendigkeiten der Industrie verlangten, dass immer mehr Menschen an
Bildung teilhaben.
Der
Weg zur “allgemeinbildenden Schule” und zur Schulpflicht
war damit geboren. Was die allgemeinbildenden Schulen lehren sollen,
ist wenigstens zum Teil zeitbedingt. Auf der einen Seite kann man an
den Schulfächern und den Lehrplänen immer noch die
historische Entwicklung nachvollziehen, auf der anderen Seite aber
kommen immer wieder neue Inhalte und Fächer hinzu, gewinnen an
Bedeutung, während andere an Bedeutung verlieren. Zwar kann man
auch heute Klafkis Vorstellung von Allgemeinbildung annehmen, dass
sie nämlich nicht nur Wissen, sondern auch pragmatische und
ethische Handlungs- und Beurteilungsfähigkeit beinhalte, aber in
einer Gesellschaft, die sich immer mehr zur Informations- und
Wissensgesellschaft und das in globaler Form entwickelt, wird der
“Gebildete” sich auch dadurch auszeichnen, dass er sich
Wissen global aneignen kann und dass er auf Grund von
Sprachkenntnissen diese interkulturell nutzen kann.
Es
bleibt richtig, dass nicht jede Generation, erst recht nicht jeder
Einzelne das Rad neu erfinden muss. Dennoch bleibt auch die Frage,
welche Inhalte zur Bildung dazu gehören. “Was einer
Gemeinschaft wichtig ist für ihr Selbstverständnis und ihre
Identität, vermittelt sie durch Texte, Bilder, Riten und
Denkmäler. Seit den 1980er Jahren prägten Aleida und Jan
Assmann dafür den Begriff ‚Kulturelles Gedächtnis’
”. Gerade in von verschiedenen Kulturen zusammen gewürfelten
Gesellschaften, wie sie in Europa die Regel sind, bekommt der Begriff
‚Kulturelles Gedächtnis’ein neues Gewicht. Was
müssen Bildungseinrichtungen leisten, um am ‚Kulturellen
Gedächtnis’ z. B. Europas teilnehmen zu lassen und
Identität zu wahren? Wieviel Teilhabe am ‚kulturellen
Gedächtnis’ ist notwendig, damit eine Gesellschaft
zusammenhält? Reicht es, sich in Google die notwendigen
Informationen dowloaden zu können? In welchem Sinne gilt noch
Goethes Satz in Faust I: “Was du ererbt von deinen Vätern,
erwirb es, um es zu besitzen.” Ob das, was aus dem “kulturellen
Gedächtnis”, aus Büchern oder dem Internet angeeignet
wurde, auch Besitz geworden ist, bestimmt den Grad der Integration in
die Gesellschaft, in der man lebt. Angesichts des enormen und
rasanten Wissenszuwachses stellt sich immer neu die Frage, welche
Bildungsinhalte sind so exemplarisch, dass die junge Generation sie
wissen sollte.
Heute
ist für Europa Bildung und Ausbildung zu einem Schlüssel
für das Überleben in einer globalisierten Welt geworden.
Dabei spielt für europäische Gesellschaften die Fähigkeit
zur Innovation eine entscheidende Rolle. Hier kommt eine besondere
menschliche Eigenschaft ins Spiel, die Kreativität; sie ist die
Voraussetzung innovativ zu sein, während sich immer mehr
Menschen das allgemein zur Verfügung stehende Wissen mit Hilfe
der neuen Medien aneignen. Das biblische Menschenbild vom Ebenbild
Gottes - hier ganz besonders die Eigenschaft Gottes als creator,
Schöpfer, bekommt damit eine hohe Aktualität, so dass
gerade die Kreativität als Bildungsziel in den Blick genommen
werden muss. Gerade hier zeigt sich die europäische Identität:
Sie hat immer wieder Menschen in die Freiheit – der Kinder
Gottes, eines Christenmenschen, eines mündigen und emanzipierten
Bürgers – geführt durch Forschen und neues Wissen und
durch Grenzüberschreitungen, die spielerisch in Musik, den
Künsten und anderen kulturellen Bemühungen erprobt wurden,
die aber auch in einem großen Forscherdrang ihren Ausdruck
fanden. Bei allen Brüchen mit der Vergangenheit – ein
Bruch mit dieser Tradtion wäre für Europa tödlich. |